Die Tollkirsche ist eine 50 bis 150 cm hohe, ausdauernde Staude mit einer bis zu 100 cm langen Pfahlwurzel an einem dicken, mehrköpfig verzweigten Wurzelstock. Aus diesem wachsen stark verästelte stumpfkantige Stengel mit ganzrandigen und elliptisch bis eiförmig zugespitzten Blättern. Bei den oberen stehen jeweils ein größeres und ein kleineres Blatt paarweise zusammen; die unteren sind wechselständig. Im Sommer erscheinen gestielte und 2,5 bis 3,5 cm lange glockenförmige Blüten, außen braunviolett und innen gelblich. Die kirschgroßen, kugeligen Beeren sitzen auf dem sternförmigen Kelch, sind zunächst grün und färben sich bei der Reife schwarzviolett-glänzend. Sie enthalten rotvioletten Saft sowie zahlreiche ei- bis nierenförmige Samen.
Die Hauptwirkstoffe der Tollkirsche (Tropanalkaloide) sind in vielen Nachtschattengewächsen – besonders in Bilsenkraut (Hyoscyamus niger) und Stechapfel (Datura stramonium) – enthalten. Weitere Arten sind z. B. das in Österreich beheimatete Tollkraut (Scopolia carniolica), Bittersüßer und Schwarzer Nachtschatten (Solanum dulcamara; S. nigrum), Gemeiner und Europäischer Bocksdorn (Lycium halimifolium; L. europaeum), Alraune (Mandragora officinarum) und Brugmansia sp. (Engelstrompete). Die Familie der Solanaceae umfasst viele Nutzpflanzen wie z. B. Paprika (Capsicum-Arten), Kartoffel (Solanum tuberosum), Tomate (S. lycopersicum), Aubergine (S. melongena) und Tabak (Nicotiana tabacum) wie auch einige Zierpflanzen, z.B. Petunie (Petunia) und Spaltblume (Schizanthus).
Die Tollkirsche war ursprünglich von Skandinavien über Mittel- und Osteuropa, den Balkan und Kleinasien bis in den Iran und Nordafrika verbreitet. Heute wächst sie auch im westlichen und mittleren Asien und in Amerika. Wildbestände werden in einigen osteuropäischen Ländern und auf dem Balkan gesammelt.
Typische Standorte sind Lichtungen und Kahlschläge in Laub- und Bergwäldern (bis 1700 m) auf frischen, nährstoffreichen und kalkhaltigen Böden.
Kultiviert wird die Tollkirsche inzwischen in zahlreichen Ländern, z. B. in England, Frankreich, Indien, Pakistan und in den USA. Zumeist im Herbst erfolgt die Einsaat in Anzuchtbeeten oder Kästen. Frosteinwirkung fördert die Keimung, während die Pflanzeselbst sehr frostempfindlich ist. Die Setzlinge kommen im zeitigen Frühjahr in ein gut abgedecktes Freilandbeet. Ältere Pflanzen treiben im April/Mai und vertragen bis zu 3 Blattschnitte im Jahr. Wenn nach 3 bis 4 Jahren der Ertrag nachläßt, werden im Spätherbst auch die Wurzeln geerntet. Der Alkaloidgehalt ist stark von Standort und Witterung abhängig und soll im Halbschatten bei warmem und sonnigem Wetter am höchsten sein.
Die Wirkungen der Tollkirsche kannte man schon in der Antike. Es gibt jedoch nur wenige Hinweise auf eine medizinische Verwendung (Alternative war die im Mittelmeergebiet einheimische Alraune). Der griechische Arzt Galenus Claudius (129-199) soll sie als schmerzstillendes Mittel bei schrecklichen Geschwüren empfohlen haben. In kultischen Handlungen führte ihre Einnahme zu Erregungszuständen und sie war Bestandteil von Zaubertränken. Germanische Stämme sollen die Tollkirsche in einem Mixgetränk als Aufputschmittel für ihre Krieger verwendet haben („Heldenkraut“). Die Wurzeln verwendete man von der Antike bis zum Mittelalter zur Zubereitung von Aphrodisiaka. Dies war keineswegs abwegig, denn die bei einer Atropinvergiftung auftretenden Erregungszustände sind nicht selten auch erotischer Natur. Eine Salbe aus dem Extrakt von Tollkirsche und Eisenhut (Aconitum napellus, Alkaloid: Aconitin) führte bei mittelalterlichen Hexenprozessen im 13. bis 18. Jh. zu Halluzinationen bei den Opfern, die in einem solchem Zustand oft bestätigten, was man ihnen vorwarf. Berichte über Heilwirkungen (gegen Schmerzen, Geschwüre, Magen und Leberleiden) sind besonders ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überliefert. Weltweit berühmt wurde die Pflanze in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts durch die „Bulgarische Kur“ des Wunderheilers Ivan Raeff aus Schipka, der eine Weinabkochung der Wurzeldroge zur Therapie der Parkinsonschen Krankheit und chronischen Encephalitis verwendete.
Der wissenschaftliche Gattungsname „Atropa“ hat seinen Ursprung im griechischen „Atropos“ („Die Unabwendbare“). In der griechischen Mythologie war Atropos die älteste der drei Moiren (= Schicksalsgöttinnen; röm. Parzen) und durchschnitt den Lebensfaden. Der Artname „belladonna“ (= ital. „schöne Frau“) hat seinen Ursprung darin, daß im Mittelalter der rötliche Beerensaft von der venezianischen Damenwelt zur Auffrischung der Wangenfarbe verwendet und auch in die Augen geträufelt wurde, was die Augen durch Weitung der Pupillen größer und strahlender erscheinen ließ.
Hauptwirkstoffe der Nachtschattengewächse sind die Tropanalkaloide Hyoscyamin, Atropin und Scopolamin (Anteil zwischen 0,2 und 2,0 %). Die Tollkirsche enthält etwa 70 % (-)-Hyoscyamin, das bei Fruchtreife und Trocknung teilweise in Atropin (= das Razemataus S-(-)-Hyoscyamin und R-( )-Hyoscyamin) übergeht. Durch Wasserabspaltung entsteht Apoatropin (Anteil bis 18 %). Der Gehalt an Scopolamin (ca. 1 %) ist im Vergleich zu Bilsenkraut und Stechapfel gering. Tropanalkaloide werden in der Wurzel gebildet undvon dort in die oberen Pflanzenteile transportiert.
Atropin hemmt die Wirkung des Acetylcholins (= Überträgerstoff der Nerven), indem es mit diesem um die Rezeptoren (= Bindungsstellen der Zellmembran) konkurriert (kompetitive Hemmung). Betroffen sind in erster Linie der Parasympathikus (= Teil des vegetativen Nervensystems), aber auch das Zentralnervensystem (z. B. die Acetylcholinrezeptoren in der Großhirnrinde). Glatte Muskulatur (z. B. Magen-Darm-Trakt, Gefäße, Bronchien, Galle) erschlafft (krampflösende Wirkung). Reizleitung und Schlagfrequenz des Herzens werden gesteigert.
Ein bedeutender Schädling in den Atropa-Kulturen Eurasiens ist der eingeschleppte Kartoffelkäfer (Leptinotarsa decemlineata).
Alle Pflanzenteile von Atropa belladonna sind sehr stark giftig. Eine Giftaufnahme ist auch über die Haut möglich. Bei Kindern gelten 3-4 der süß und angenehm schmeckenden Beeren als tödlich (1-10 mg Atropin); bei Erwachsenen 10-12 Beeren (etwa 100 mg Atropin). Reaktionen erfolgen schon bei Einnahme kleinster Mengen (z. B. 0,3 g Blätter). Vergiftungssymptome sind u. a. stark geweitete Pupillen, Hautrötung, Trockenheit und Kratzen in Mund und Kehle, unregelmäßiger Herzschlag, Übelkeit, Erregung biszu Wahnvorstellungen, Krämpfe, Atemlähmung.
Tiere zeigen unterschiedliche Empfindlichkeit: Ziegen, Hasen, Kaninchen, Meerschweinchen und viele Vogelarten sind giftresistent, während eine solche Resistenz z. B. Pferden, Rindern und Schweinen fehlt und diese die Pflanze in der Regel auch nicht als Futter aufnehmen.
Leider hat sich die mit der Tollkirsche verwandte und ebenfalls sehr giftige Engelstrompete (Brugmansia-Arten) in den letzten Jahren zur „Modedroge“ entwickelt, was zu zahlreichen Vergiftungen auch mit Todesfällen führte.
Arzneidrogen: Belladonnae folium (Belladonnablätter) und Belladonnae radix (Belladonnawurzel)
Anwendungsgebiete sind Krämpfe und krampfartige Schmerzen im Bereich des Magen-Darm-Trakts und der Gallenwege (Positiv-Bewertung der Kommission E). Weitere Verwendung zur Linderung der Beschwerden bei Nervenerkrankungen, Asthma und übermäßiger Schweißabsonderung.
Atropin: Officinell ist Atropinsulfat. In der Augendiagnostik nimmt man Atropin-Präparate zur Pupillenerweiterung. Es dient zudem als Antitoxin beibestimmten Vergiftungen z. B. durch Morphin und einige chemische Kampfstoffe (Tabun, Sarin, Soman).
Zur Herstellung von Arzneimitteln werden getrocknete Blätter, Wurzeln und Wurzelstöcke sowie blühende Zweigspitzen verwendet. Im Handel gibt es feste und flüssige Fertigpräparate (in Kombination mit mehreren Wirkstoffen) zum Einnehmen und ABC-Pflaster zur äußerlichen Behandlung von Nerven- und Muskelschmerzen.
Das Homöopathikum „Belladonna” wird aus der frischen, zur Blütezeit gesammelten ganzen Pflanze (ohne verholzte Stengel) hergestellt. Verwendet wird es zur Behandlung hochfiebriger Erkrankungen, aber auch z. B. bei krampfartigen Zuständen des Magen-Darm-Trakts, Asthma und Bronchitis, Nerven-, Muskel- und Periodenschmerzen, überwiegend in Form von Tabletten, Globuli, Zäpfchen und Salben.
Von einer Selbstanwendung gesammelten Pflanzenmaterials wird eindringlich gewarnt!
Atropa belladonna nebst Zubereitungen ist ein verbotener Stoff nach der Kosmetikverordnung.
→ nach oben
→ zurück zur Übersicht
Letzte Änderung: 12. Januar 2021
Letzte inhaltliche Änderung/Überprüfung: z. Z. in Arbeit (2021)
Zitierweise:
Pelz, Gerhard Rudi & Birgitt Kraft (2020): Tollkirsche (Atropa belladonna) – in: Kräuter-ABC, Website der Stiftung zur internationalen Erhaltung der Pflanzenvielfalt in CH-Brunnen: www.kraeuterabc.de (abgerufen am ……).
Bildnachweise
• Verbreitungskarte Atropa belladonna: Euro+Med PlantBase Project. Botanical Museum, Helsinki, Finland 2018; Data from BGBM Berlin-Dahlem, Germany. Source: World Checklist of Selected Plant Families (2010), © The Board of Trustees of the Royal Botanic Gardens, Kew;
alle weiteren Fotos und Abbildungen:
© Dr. Gerhard Rudi Pelz, Petersberg
Zitierte Literatur
→ Standardwerke, Lehrbücher und weiterführende Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis (home-Seite oder (http://www.kraeuterabc.de/literatur/)