Enzian

  • Gentiana lutea
  • Gelber Enzian, Bitterwurz, Bergfieberwurzel, Großer Enzian
  • (Fam. Gentianaceae, Enziangewächse)
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Kräuterbeschreibung

Die meisten Arten der Gattung Gentiana sind kleinwüchsig und nur wenige – wie der Gelbe Enzian (G. lutea) – von stattlichem Wuchs (bis 1,50 m). Seine rübenförmige, bis 1 m lange Hauptwurzel (Rhizom) kann armdick und rund 50 Jahre alt werden. Im Frühjahr bildet die Pflanze eine grundständige Rosette. Ihre ovalen, bläulich-grünen Blätter haben kräftige Bogennerven und sind in der Lage, Regenwasser zu sammeln und zu speichern („Blatt-Zisternen”). Das vegetative Wachstum dauert bis zu 10 Jahre; erst dann entwickeln sich hohle, aufrecht wachsende Stängel, an denen kreuzgegenständig und stengelumfassend die Laubblätter sitzen. Zwischen Juni und August bilden sich in den Achseln der Hochblätter trugdoldige Scheinquirle mit jeweils 3 bis 10 goldgelben Blüten. Ihre radförmige Krone ist tief geteilt (fünf- oder sechsteilig) und hat lanzettliche Zipfel. Die im September/Oktober ausgereiften Früchte sind oval-elliptische, bis 6 cm lange Kapseln. In einer Vegetationsperiode kann die Pflanze bis zu 10.000 Samen produzieren. Sie sind stark abgeflacht und schmal (flügelartig) umrandet, was ihre Verbreitung durch den Wind erleichtert (200 Samen wiegen nur 0,2 g). Voraussetzung für die Keimung der Samen sind sowohl die Kälte des Winters (Stratifikation) als auch das Licht.

Verwandte Kräuter

In gleicher Weise wie der Gelbe Enzian wurden früher auch Purpurroter Enzian (G. purpurea), Punktierter Enzian (G. punctata) und Ungarischer Enzian (G. pannonica) sowie die kleinblütigen blauen Arten Stängelloser Kalk-Glockenenzian (G. clusii) und Breitblättriger Enzian (G. kochiana) verwendet. In China nimmt man die Wurzeln der dort heimischen Enzianarten, besonders des Großblättrigen Enzians (Gentiana macrophylla = Qin jiao) und Japanischen Enzians (G. scabra = Long dan cao).
In Mitteleuropa bisher nur wenig beachtet wird das Chirettakraut (Swertia sp., Fam. Enziangewächse) mit ähnlichen Wirkstoffen wie Gentiana lutea (Vorkommen zumeist in Bergregionen Asiens; auch in Europa, Nordamerika und Afrika). In indischen Basaren ist Swertia chirata syn. Opheliachirata als „Chirata” erhältlich; S. japonica wird in China angebaut (Review Swertia-Arten: Kshirsagar et al. 2019).

Weitere Heilpflanzen aus der Fam. Enziangewächse sind z. B. das Tausendgüldenkraut (Centaurium erythraea und C. chilensis) und das in Südafrika vorkommende Chironia baccifera.

Vorkommen

Herkunft und Verbreitung

Die insgesamt rund 400 Arten der Gattung Gentiana sind nur auf der Nordhalbkugel verbreitet, überwiegend in Gebirgen der gemäßigten Zone. In Europa gibt es etwa 35 Enzian-Arten, die meisten in den Alpen.
Der Gelbe Enzian (G. lutea) ist in den mittel- und südeuropäischen Gebirgsregionen heimisch, vor allem im Alpenraum und zerstreut mit teils stabilen Beständen auch in Mittelgebirgen (z. B. Schwarzwald, Vogesen, Schwäbische Alb). In Südamerika wurde er als Heilmittel eingeführt und ist nun in den Anden anzutreffen.

Standorte

Die Art bevorzugt kalkhaltige, magere und mäßig feuchte Lehm- und Tonböden (neutral bis basisch: pH 5,5 bis 8,5) in sonniger bis halbschattiger Lage in subkontinentalem Klima (= niedrige relative Luftfeuchtigkeit, große Temperaturschwankungen, eher kalte Winter).
Typische Standorte sind Berg- und Hochstaudenwiesen in der montanen und subalpinen Stufe (bis 2.500 m), wo die Pflanze vom Weidevieh gemieden und daher durch Beweidung gefördert wird.

Kultivierung

Nur in wenigen europäischen Ländern ist die Sammlung von Wildpflanzen des Gelben Enzians noch gestattet (z. B. in Teilen Frankreichs und Spaniens) oder traditionelles Sammeln wird regional beibehalten (z. B. in Italien/Apennin, Frankreich/Pyrenäen, Balkan). Almbauern ist dies recht, denn die bittere Pflanze wird von Rindern nicht gefressen und überwuchert das Gras. Doch schon im 17. Jh. erkannte man die Gefahr zu starker Bestandsverminderung und erteilte in vielen Sammelgebieten verbriefte, noch heute gültige Grabrechte, die es erlauben, jährlich eine bestimme Menge Enzianwurzeln zu ernten und zu verarbeiten (Brennrechte). Das Ausgraben der fest im Boden verankerten und bis zu 6 kg schweren Wurzeln mit „Reuthacke” oder „Teufelszack” (zweizinkige Gabel) war nur alle 7 Jahre an ein und derselben Stelle erlaubt und zudem sehr mühevoll. In Berchtesgaden ist die 1692 begründete Tradition noch heute lebendig (Grassl 2020).

Weil die Pflanze generell unter Naturschutz steht, wird der feldmäßige Anbau seit etwa 35 Jahren erforscht und inzwischen erfolgreich betrieben (Seitz et al. 2005). Durch Sammlung von Wildvorkommen wurden von Brennereien zusammen mit der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf zunächst das beste Ausgangsmaterial ausgewählt, ein (patentiertes) Verfahren zur Samenkeimung entwickelt und die optimale Anzucht von Jungpflanzen ermittelt. Diese werden im Alter von zwei Jahren ins Freiland gepflanzt und können nach weiteren 4 bis 5 Jahren geerntet werden. Als Arzneipflanze, für den pharmazeutischen Bedarf und zur Herstellung von Enzian-Spirituosen wird Gentiana lutea in größeren Plantagen in den Alpenländern, besonders in Südfrankreich, aber auch in Spanien, Italien, Deutschland sowie in Süd- und Südosteuropa (Radanović et al. 2014) angebaut. Selbst kleinere Betriebe nutzen das ökonomische Potential der Pflanze, z. B. in Deutschland seit 2006 in Kirchdorf/Helfenbrunn (Nußstein 2020) oder seit 2017 in Österreich (Galtür, Bez. Landeck; ORF 2019).

Bevorzugte Methode zur Vermehrung des Gelben Enzians ist die Teilung seines Wurzelstocks: im Herbst (September/Oktober) oder Frühjahr (März/April) werden die Wurzeln von 5- bis 7-jährigen Pflanzen ausgegraben, gereinigt, in kleine Stücke geschnitten und in den Boden eingebracht. Obwohl die Pflanze kalkhaltige Böden bevorzugt, gedeiht sie in der Regel auch auf Gartenboden – der jedoch nicht sauer (pH = basisch oder neutral) und möglichst locker und steinfrei sein sollte – an einem sonnigen, aber dennoch eher kühlen Standort (Hochlage). Eine Vermehrung über Samen ist zwar prinzipiell möglich, erfordert aber wegen der langsamen Samenreife und Keimung sehr viel Zeit und Geduld. Einfacher ist die weitere Aufzucht der im Fachhandel erhältlichen Jungpflanzen. Weil auch diese nur langsam wachsen, werden sie im Garten schnell überwuchert, was häufiges Unkrautjäten erfordert. Gedüngt wird im Herbst; am besten mit etwas Kompost.

Einige Gentiana-Arten und -Sorten sind als Zierpflanzen erhältlich. Ihrer Herkunft aus verschiedenen Erdteilen und Klimaten entsprechend haben sie unterschiedliche Ansprüche, z. B. an Standort und Boden. Im Handel häufig angeboten werden der Japanische Herbst-Enzian (G. scabra und G. ashiro / „Shine Blue” / „Crystal” / „Lipstick”), Chinesischer Enzian (G. sino-ornata), Sibirischer Enzian (G. dahurica / „Nikita”), Stängelloser / Kochscher Enzian (G. acaulis), Frühlings-Enzian (G. verna) und Sommer-Enzian (G. septemfida var. lagodechiana).

Umwelt, Naturschutz

Alle europäischen Enzian-Arten sind in Deutschland nach Anlage 1 zur BArtSchV (Bundesartenschutzverordnung) und der FFH-Richtlinie (= Fauna-Flora-Habitat Richtlinie 92/43/EWG) stark gefährdet. Wildvorkommen sind „besonders geschützt”, d. h. sie dürfen nicht gepflückt werden.

Unter Bergbauern gilt der Gelbe Enzian als lästiges Unkraut. Probleme mit zu hohen Beständen gibt es besonders auf Weideflächen, wo er vom Vieh gemieden wird. So muss z. B. im Naturschutzgebiet Feldberg im Rahmen eines Bergwaldprojekts jedes Jahr ein Drittel des Bestands entfernt werden (Schnekenburger 2019).

Gentiana lutea ist zwar selbstbestäubend, entwickelt dabei aber eine nur geringe Samenzahl („Selbstpollenhemmung”). Zur Verbesserung der Samenproduktion benötigt sie zugleich den Nektargehalt ihrer Blüten als Anreiz zur Fremdbestäubung, die von verschiedenen Insektenarten (Hymenoptera und Diptera) übernommen wird. Beide Strategien gleichzeitig sind wohl geeignet, Verluste zu reduzieren und eine höhere Pflanzenfitness zu erlangen (Rossi et al. 2014).

Brauchtum

In der antiken Heilkunst diente der Gelbe Enzian – z. B. nach Schriften von Dioskurides (1. Jh.) und Galen (2. Jh.) – zur Behandlung von Leber- und Magenbeschwerden, Verletzungen, Geschwüren und Pest, gegen Würmer und Bisswunden giftiger Tiere, aber auch zur Abtreibung. Im Mittelalter empfahl Hildegard von Bingen (1098–1179) in ihrer Physica, Enzianpulver gegen starke Halsschmerzen und bei „Magenfieber” in geringer Menge unter die Speisen zu mischen. Dies solle außerdem das Herz stärken.

Der Arzt und Botaniker Leonhart Fuchs (1501–1566) schrieb in seinem Kräuterbuch von 1543: „In summa Entzian wurzel und der safft daruon, zerteylen, reynigen, seubern, vn nehmen hinweg Allerlei verstopffung. Seind ein treffenliche artzney für allerley gifft, vnd bekomen seer woldem schwachen magen.” Helfen sollte der Wurzelsaft zudem bei Seitenschmerzen, Wunden, Augenentzündungen, Hautunreinheiten und Gicht.
Enzian war Bestandteil des Theriaks, ein aus vielen Substanzen zusammengesetztes alchimistisches Universalheilmittel, das bis zum 19. Jh. – über einen Zeitraum von 1.700 Jahren – verwendet und von Hieronymus Bock (1498–1554) u. a. als vorzügliche Magenarznei bezeichnet wurde.

Bis heute wird die Pflanze besonders in der alpenländischen Volksmedizin hoch geschätzt und gegen Beschwerden im Magen- und Darmbereich genommen; besonders gerne in Form von Enzianschnaps.

Im ältesten Heilpflanzenbuch Chinas („Shennong Bencaojing”, 2000 v. Chr.) soll der Großblättrige Enzian (G. macrophylla) bereits beschrieben worden sein. Selbst wenn das (mittlerweile verschollene) Werk um viele Jahrhunderte jünger sein sollte (Needham 1985), steht fest, dass Enzian in Ostasien zu den klassischen, schon seit altersher genutzten Heilkräutern gehört. Noch heute verwendet man die Wurzel in Kombination mit anderen Kräutern wie Angelica pubescens (Du huo; Fam. Apiaceae) und Zimt (Cinnamomum sp.) zur Behandlung von Symptomen, die aus den „Wind-Feuchtigkeitszuständen” des Körpers resultieren. Dazu gehören Fieber, Leberleiden, Harnwegsinfekte und Rheuma. Der Japanische Enzian (G. scabra) soll beim Patienten die „Hitze” im Körper beseitigen. Zusammen mit anderen Drogen wie Bupleurum chinense (Chai Hu, Fam. Apiaceae) und Scutellaria baicalensis (Huang Qin; Fam. Lamiaceae) wird er gegen Leber- und Gallebeschwerden, Bluthochdruck, Infektionen der Harnwege, Kopfschmerzen und Verstopfung angewendet.

Wissenswertes

Der Gattungsname Gentiana geht auf den illyrischen König Genthios (180–168 v. Chr.) zurück, der den medizinischen Wert der Pflanze schon damals  erkannt und sie als Mittel gegen die Pest verwendet haben soll. „lutea” ist abgeleitet von lateinisch „luteus” (= gelb).

Eigenschaften

Inhaltsstoffe, Eigenschaften, Wirkungen

Hauptbestandteile der Wurzel sind die für Enziangewächse typischen Bitterstoffe, insbesondere 2 bis 4 % Secoiridoidglykoside mit Gentiopicrosid (= Hauptkomponente, ca. 2,5 %) und Amarogentin. Ebenfalls bitter schmeckt das Trisaccharid Gentianose (2,5 bis 5 %), welches sich beim Trocknen der Wurzel in die noch bitterere Gentiobiose umwandelt.
Der Bitterwert der Droge beträgt mindestens 10.000. Amarogentin ist fast 5.000mal bitterer als Gentiopicrosid und damit der bitterste aller bekannten Naturstoffe (sein Bitterwert beträgt 58.000.000; eine Verdünnung von 1 : 50.000 ist noch herauszuschmecken).
Weitere wichtige bioaktive Wirkstoffe sind Xanthone (ca. 0,25 %, z. B. Gentisin, Gentiosid; gelb gefärbt), Polysaccharide und Phytosterole. Das früher als Inhaltsstoff isolierte Alkaloid „Gentianin” hat sich als Artefakt erwiesen, denn es bildet sich erst im Rahmen der Anreicherung und Aufarbeitung in wässriger Ammoniaklösung aus Gentiopicrosid.

Besonders bei Wildpflanzen sind Angaben zum prozentualen Anteil der Inhaltsstoffe nicht allzu eng zu sehen, denn sie werden in hohem Maß von Umweltfaktoren wie Temperatur, Standort, Boden, Klima, Niederschlag, Licht usw. beeinflusst und variieren sehr stark – nicht nur in den einzelnen Pflanzenorganen, sondern auch innerhalb von Beständen und zudem von Jahr zu Jahr (Zhang et al. 2020).

Die Enzianwurzel hat einen leicht süßlichen Geruch, der an getrocknete Feigen erinnert. Auch den Geschmack empfindet man zunächst als süß, doch wird er danach äußerst bitter.

Bitterstoffe reizen die Geschmacksrezeptoren und bewirken eine reflektorische Anregung der Speichelsekretion, die Beschleunigung (und auch Hemmung) der Magensaftsekretion, eine Förderung der viskosen Flüssigkeitssekretion wie auch der Gallensekretion und die Verbesserung der Magenmotilität (Niiho et al. 2006); zudem wirkt die Droge als Stärkungs- und Kräftigungsmittel. Diese Lehrmeinung wird heute zunehmend differenzierter gesehen, denn die biochemische Wirkungsweise von Bitterstoffen – etwa von Enzian und Wermut einerseits und Koffein andererseits – ist durchaus unterschiedlich (McMullen 2015).

Forschung

Enzian gehört zu den wichtigsten Heilpflanzen gegen Magenbeschwerden. Bei Tierversuchen zeigte sich auch eine Wirksamkeit gegen Magengeschwüre (antiulzerogene Eigenschaften), bei der die secoiridoidalen Glykoside des Enzians dazu beitragen, Prostaglandine – die die keinen Einfluss auf die Magensaftsekretion haben und zellschützend wirken – in der Magenschleimhaut zu aktivieren (Niiho et al. 2006).
Nahm man bei Magengeschwüren früher an, dass eine Schädigung der Magenschleimhaut durch übermäßig viel Säure vorliegt, so steht heute das Bakterium Helicobacter pylori im Mittelpunkt der Forschung. Es vermag Magengeschwüre durch Verletzung der Schleimhautabdeckung auszulösen und befindet sich dabei unter der Schleimschicht, was seine Bekämpfung erschwert. Die Therapie beschränkt sich auf Linderung von Symptomen, Heilung von Geschwüren und Vermeidung ihres erneuten Auftretens. Asnaashari et al. (2018) nahmen dies zum Anlass, in einer Review die die Verwendung von Pflanzenwurzeln zur Vorbeugung und Behandlung von Magengeschwüren anhand von wissenschaftlichen Veröffentlichungen im Zeitraum 1980–2016 zu bewerten. Sie fanden und beschrieben 34 Pflanzenarten, deren Wurzeln eine magenschützende Wirkung aufweisen und/oder gegen Magengeschwüre wirksam sind.

Auch nach einer Krebsbehandlung mit Chemo- oder Strahlentherapie kommt es oft zu Beschwerden wie Verdauungsstörungen, Brechreiz, Appetitlosigkeit oder verminderte Wahrnehmung von Geruch und Geschmack. Um diese Nebenwirkungen zu lindern, stehen neben chemischen Pharmazeutika (Antiemetika) auch Enzian-Präparate zur Verfügung.

Warnhinweise

Nicht empfohlen wird eine Anwendung in der Schwangerschaft. Bei empfindlichen Personen könnten Kopfschmerzen auftreten (allergische Reaktion auf Amarogentin).
Als Gegenanzeigen werden in der älteren Literatur (u. a. von der Kommission E 1978–1994) Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre genannt. Dies dürfte auf der Annahme vermehrter Sekretion von saurem Magensaft begründet sein. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA 2020) verzeichnet in ihrer HMPC-Monographie keine Risiken für Enzian-Wurzelmedikamente, doch sollten sie nur bei Erwachsenen angewendet werden.

Im nicht blühenden Zustand kann der Gelbe Enzian (Gentiana lutea) leicht mit dem giftigen Weißen Germer (Veratrum album; Fam. Germergewächse = Melanthiaceae) verwechselt werden. Zu unterscheiden sind die beiden miteinander nicht verwandten Arten durch die Stellung ihrer Blätter: beim Enzian kreuzgegenständig und beim Weißen Gerber wechselständig und spiralig angeordnet. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal sind die frischen Wurzeln: beim Enzian sind sie innen gelb (nach dem Trocknen gelbbraun) und beim Germer weiß.

Germer enthält besonders in der Wurzel sehr giftige Alkaloide (u. a. Germerin), die zunächst Erbrechen und Durchfall verursachen. In früheren Zeiten wurde er daher in geringer Konzentration vor allem als Brechmittel und zum Austreiben von Totgeburten verwendet. In größerer Menge aufgenommen kann Germer schon nach wenigen Stunden den Tod durch Atemstillstand bewirken. Es gibt einige Hinweise, dass Alexander der Große an einem Weingemisch gestorben sein könnte, das Weißen Germer enthielt (Independent 2014).

Anwendung

Anwendungsgebiet

Arzneidroge: Gentianae radix (Enzianwurzel)

Die Hauptanwendung sind Appetitlosigkeit und Verdauungsbeschwerden, z. B. Blähungen und Völlegefühl.

Anwendungsart

Als mittlere Tagesdosis werden 3 g, als Einzeldosis 1 g der Droge empfohlen; Zubereitungen entsprechend.
Verwendet wird die getrocknete und zerkleinerte Wurzel (oder Trockenextrakte) für die innerliche Anwendung, z. B. Aufgüsse und Tee.
Die Hauptwirkung liegt bei den Bitterstoffen und ist geschmacksabhängig. Das Hinzufügen von Stoffen, die eine Reizung der Geschmacksrezeptoren durch die Bitterstoffe mindern (z. B. Zucker, Honig), verringert die Wirksamkeit.
Die Droge ist oft in Fertigarzneien z. B. gegen Leber- und Gallestörungen sowie in Abführmitteln enthalten.

Enzianwurzeln zu Heilzwecken werden unmittelbar nach der Ernte getrocknet und in verschlossenen Gefäßen aufbewahrt.

Produkte

Getränke

Enzian-Spirituosen werden weit über den Alpenraum hinaus geschätzt: „Enzianbrand” (= „Enzianschnaps”) enthält ätherische Öle, aber keine Bitterstoffe (diese befinden sich im Destillat). „Magen-” oder „Kräuterbitter” und „Kräuterliköre” sind dagegen alkoholische Enzianwurzel-Auszüge mit Bitterstoffen, die in einem Reifeprozess oft lange gelagert werden, z. B. in Eichenholzfässern.

Im Alpenraum wurde früher privat gebrannt und erst um 1880 entstanden zunächst in Bayern, Österreich, Italien und der Schweiz auch gewerbliche Enzianbrennereien. Die kleingehackten Wurzeln zur Herstellung von Branntwein vergären zunächst 6 Wochen lang mit Hefe, wobei die Fermentationsprozesse in der frischen Wurzel die Entwicklung der gewünschten Aromastoffe fördern. Nach dem (oft doppelten) Brennverfahren wird der mindestens 37,5 Vol.-% Alkohol enthaltende Wurzelschnaps gelagert (optimal 3 bis 7 Jahre lang in Eichenholzfässern). Einige italienische Branntweine (Brandy) und Gin-Sorten werden mit Alpenkräuterauszügen versetzt, die Enzian enthalten. Sie dienen auch als Aperitif, haben hier jedoch eine eher soziale Funktion mit dem Ziel, die Wartezeit bis zum Servieren der Speisen zu überbrücken. In Tirol ist Enzian-Branntwein ein „registriertes traditionelles Lebensmittel” und die regionalen Kenntnisse um das Brauchtum wurden 2013 von der UNESCO als „immaterielles Kulturerbe” anerkannt (Ausstellung im Alpinarium Galtür/ Paznaun).

„Bitter” müssen nach EU-Verordnung mindestens 15 %.-Vol. AlkohoI enthalten, doch liegt der Anteil oft darüber. Kräuterbitter werden überwiegend als Digestif (französisch „digestif” = verdauungsfördernd; von lateinisch „digestio” = Verteilung) getrunken, d. h. zur besseren Verdauung meist nach dem Essen. Ihre Wirkung ist nicht auf den Alkohol, sondern auf die in der Enzianwurzel enthaltenen Bitterstoffe zurückzuführen. Verwendet werden in erster Linie die Wurzeln des Gelben Enzians (Kulturpflanzen von Gentiana lutea); zu erheblich geringerem Anteil auch jene des weniger ergiebigen Purpur-Enzians (G. purpurea) und seltener die des Pannonischen- (G. pannonica) und Tüpfel-Enzians (G. punctata; in Tirol); sie alle weisen eine geringere Bitterstoff-Konzentration als G. lutea auf. Beispiele: Einer der ältesten Kräuter- bzw. Magenbitter ist „Underberg” (Geheimrezept seit 1846, Kräuter aus 43 Ländern); zudem ist eine Vielzahl weiterer (oft regionaler) Bitter-Produkte erhältlich, u. a. „Bitterstern”, „Bitterkraft”, „Bitterliebe”. Bitter- und Kräuterliköre sind u. a. „Angostura”, „Aperol”, „Cinzano Bitter”, „Barolo Chinato”, „Cynar”, „Picon”. Bitter-Aperitifs enthalten ebenfalls Enzian-Auszüge, z. B. der französische „Suze” und wohl auch „Campari” (Geheimrezept). Beim Aperitif „Ambassadeur” nimmt man nicht die Wurzeln, sondern die Blüten.

Auf vielen Enzianprodukten werden blau blühende Arten abgebildet. Sie sind ungleich populärer als der Gelbe Enzian („Blau, blau, blau blüht der Enzian…”), haben aber mit der Droge nichts zu tun – abgesehen von ihrer Verwandtschaft und dem gemeinsamen Namen.

Rezept für selbstgemachten Enzianschnaps: 10 g getrocknete Enzianwurzel (aus der Apotheke) zerkleinern, 0,5 l Wodka oder Obstler hinzufügen, 1 bis 2 Monate ruhen lassen, filtern, in eine heiß ausgespülte Flasche füllen und fest verschließen (die Wurzeln können auch in der Flasche verbleiben). In kleinen Mengen als Bitter oder Digestif trinken.

Tee

Für Enziantee nimmt man ½ Teelöffel (1–2 g) zerkleinerte Enzianwurzel auf 1 Tasse Wasser (150 ml), mit heißem Wasser übergießen und 5 Minuten ziehen lassen (oder 5 Minuten aufkochen); durch ein Teesieb geben und 1 Tasse täglich vor den Mahlzeiten kalt oder mäßig warm und ungesüßt trinken. Nicht ganz so bitteren Tee erhält man mit einem Kaltansatz: Zutaten und Anwendung wie oben, aber kaltes Wasser verwenden und etwa 8 Stunden ziehen lassen. Enzian-Tee wird vor dem Essen getrunken.

Speisen

Enzian-Branntwein eignet sich zum Flambieren von Fleisch: Nach dem Anbraten wird eine geringe Menge (ca. 8 cl) hinzugefügt und vorsichtig angezündet. Man läßt die Flamme ausbrennen und das Fleisch bei kleiner Flamme fertig garen.
Zum Marinieren bestreicht man z. B. eine Lammkeule mit Enzian-Branntwein und lässt sie dann zusammen mit Öl und Kräutern möglichst unter Luftabschluss (fest geschlossener Topf) rund 12 Stunden stehen.
Auch in der Süßwarenindustrie verwendet man Enzian, z. B. in Kräutermischungen zur Herstellung von Kräuterbonbons.

Kosmetik

Enzianprodukte sind in der Kosmetik wenig verbreitet; angeboten werden z. B. Gesichts- und Hautcreme mit Enzian, Augenbrauen- und Wimpern-„Serum”, Enziansalbe, -seife, -shampoo und -conditioner. Kosmetische Rezepturen für Hautpflegemittel enthalten vielfach den Extrakt aus Swertia japonica, dem Japanischen Sumpfstern.

Nach neueren Erkenntnissen haben Bitterstoffe wie Amarogentin eine hautregenerierende und barrierestärkende Wirkung. Damit könnten sie neue Therapiemöglichkeiten eröffnen, besonders bei Neurodermitis und sehr trockener Haut, z. B. Altershaut, doch auch bei Histamin-induzierten Hautkrankheiten wie chronischer Dermatitis und Urtikaria (Wölfle & Schempp 2018).

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Letzte Änderung: 9. Januar 2021
Letzte inhaltliche Änderung/Überprüfung: 27. November 2020

Zitierweise:
Pelz, Gerhard Rudi & Birgitt Kraft (2020): Enzian (Gentiana lutea) – in: Kräuter-ABC, Website der Stiftung zur internationalen Erhaltung der Pflanzenvielfalt in Brunnen/Schweiz: www.kraeuterabc.de (abgerufen am ……).


BILDNACHWEISE UND ZITIERTE LITERATUR

Bildnachweise

• Verbreitungskarte der Gattung Enzian (Ausschnitt): aus Mirzaee (2017);
• Underberg-Kräuterbitter: Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Firma Underberg;
• Verbreitungskarte Gentiana lutea nach Ländern: Euro+Med PlantBase Project. Botanical Museum, Helsinki, Finland 2018; Data from BGBM Berlin-Dahlem, Germany. Source: World Checklist of Selected Plant Families (2010), © The Board of Trustees of the Royal Botanic Gardens, Kew;

alle übrigen Fotos:
© Dr. Gerhard Rudi Pelz, Petersberg

Zitierte Literatur
→ Standardwerke, Lehrbücher und weiterführende Literatur finden Sie im Literaturverzeichnis (home-Seite oder (http://www.kraeuterabc.de/literatur/)

Asnaashari, S. et al. (2018): Gastroprotective effects of herbal medicines (roots). – International Journal of food properties 21 (1): 902–920; doi.org/10.1080/10942912.2018.1473876.

EMA (2020): HMPC-Monographien der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA); (HMPC = Committee on Herbal Medicinal Products); www.ema.europa.eu/en/medicines/herbal/gentianae-radix (abgerufen am 27.11.2020).

Grassl (2020): Seit 1692 geliebtes Handwerk. – Website der Enzianbrennerei Grassl GmbH & Co.KG in Berchtesgaden; www.enzian-grassl.com (abgerufen am 25.11.2020).

Independent (2014): Mystery of Alexander the Great’s death solved? Ruler was ‚killed by toxic wine‘ claim scientists. – Independent, Ausgabe vom 12. Januar 2014 (www.independent.co.uk/news/science/mystery-alexander-great-s-death-solved-ruler-was-killed-toxic-wine-claim-scientists-9054625.html).

Kommission E (1978 bis 1994): Heilpflanzen-Monographie des Bundesgesundheitsamts (BGA) und des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM); Loseblattsammlung.

Kshirsagar, P. R. et al. (2019): Ethanopharmacology, phytochemistry and pharmacology of medicinally potent genus Swertia: An update (Review). – South African Journal of Botany 124: 444–483; doi.org/10.1016/j.sajb.2019.05.030.

McMullen, M. K. et al. (2015): Bitters: Time for a New Paradigm (Review Article). – Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine, Article ID 670504; 8 Seiten; doi.org/10.1155/2015/670504.

Mirzaee, F. et al. (2017): Medicinal, biological and phytochemical properties of Gentiana species. – Journal of Traditional and Complementary Medicine 7 (4): 400–408; doi.org/10.1016/j.jtcme.2016.12.013.

Needham, J. (1985): Science and civilisation in China. (in fanzösischer Sprache) – In: Arts asiatiques 41: 133–134. (www.persee.fr/doc/arasi_0004-3958_1986_num_41_1_1211_t1_0133_0000_2).

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Nußstein, B. (2020): Enziananbau. Gelber Enzian (Gentiana lutea). – www.ampertaler-naturprodukte.de/ (abgerufen am 25.11.2020).

ORF (2019): Erfolgreicher Anbau von Gelbem Enzian. – Österreichischer Rundfunk, Bericht vom 2. August 2019; tirolhttps://tirol.orf.at/stories/3006943/. (vgl. Fotos in: „www.gentiana-lutea-anbau.com).

Radanović, D. et al. (2014): Cultivation trials on Gentiana lutea L. in Southern and South-eastern Europe. – Journal of Applied Research on Medicinal and Aromatic Plants 1 (4): 113–122; doi.org/10.1016/j.jarmap.2014.10.004.

Rossi, M. et al. (2015): Biosystematic studies on the mountain plant Gentiana lutea L. reveal variability in reproductive traits among subspecies. – Plant Ecology & Diversity 9 (1): 97–104; doi.org/10.1080/17550874.2015.1074625.

Schnekenburger, O. (2019): Gut für die Kuh – und ein Schnaps dazu.– Badische Zeitung vom 29.09.2019.

Seitz, R. et al. (2005): Porträt einer Arzneipflanze. Gelber Enzian. – Zeitschrift für Phytotherapie 26 (3): 143–151; doi: 10.1055/s-2005-872307.

Wölfle, U. & C. M. Schempp (2018): Bitterstoffe – von der traditionellen Verwendung bis zum Einsatz an der Haut. – ZPT = Zeitschrift für Phytotherapie 39: 210–215.

Zhang, J. et al. (2020): Environmental impact on the variability in quality of Gentiana rigescens, a medicinal plant in southwest China.  – Global Ecology and Conservation 24: e01374; doi.org/10.1016/j.gecco.2020.e01374.